1. Kapitel

 

Sommer 1873, London

 

Was war das?«

Lady Violet Bruce, Tochter des Oberhauptes des Südclans, blinzelte in die Dunkelheit ihres Schlafgemachs.

»Violet?«

Lord Patrick Bruce richtete sich besorgt auf und nahm seine Frau schützend in die Arme. Das tat er oft, seit sie so knapp dem Tode entronnen war.

»Da war etwas, ein Geräusch.«

Patrick war schlagartig hellwach. Aufmerksam lauschte er in die Dunkelheit, doch im Haus war es still. Lediglich das Ticken der alten Standuhr drang zu ihm herauf sowie ein gelegentliches Knarren der alten Holzdielen.

Violet atmete tief ein. Ihr Geruchssinn war schärfer als der eines jeden Vampirs, selbst wenn dieser zu den Ältesten gehörte, so wie Patrick. Und er täuschte sie auch diesmal nicht.

»Es sind zwei! Draußen im Gang!«

Patrick handelte ohne zu zögern, wie ein Blitz schoss er aus dem Zimmer. Sekunden später hatte er die beiden Männer zu Boden gerungen. Violet rannte um sie herum zum Kinderzimmer.

Das Baby weinte, als hätte es die Gefahr gespürt. Seine Mutter hob es aus seinem Bettchen. »Sch, sch«, beruhigte sie ihre kleine Tochter, »ist ja schon gut, meine kleine Catherine, alles ist gut.«

Violet wiegte das Kind in ihren Armen, den Blick starr auf die Tür geheftet. Draußen ertönte ein lautes Krachen, gefolgt von einem unterdrückten Schmerzensschrei.

Das ist nicht Patrick, sagte sie sich. Patrick ist stark, er wird nicht zulassen, dass uns etwas passiert.

»Tod den Auserwählten!« Die Tür flog auf, und ein Vampir sprang mit gezücktem Dolch ins Zimmer.

Violet sah sein verzerrtes Gesicht, las ihren Tod in seinen Augen und kehrte ihm den Rücken zu, um ihr Kind zu schützen. Voller Angst wartete sie auf den Messerstich. Sie fürchtete nicht um sich selbst, sondern um ihre kleine Tochter. Sollte sie sterben, wäre ihre kleine Catherine dem Mann schutzlos ausgeliefert.

Aber der Angriff blieb aus. Es gab einen dumpfen Schlag, dann schlangen sich Patricks Arme von hinten um sie und das Kind.

»Es ist vorbei, sie sind tot. Sie werden euch nichts mehr tun.«

»Das waren Vampire«, stammelte sie. Aber natürlich wusste Patrick das bereits; schließlich hatte er gegen sie gekämpft.

»Ja«, bestätigte er grimmig.

»Sie wollten Catherine und mich töten.«

Patricks Augen wurden schmal. »Sie haben bekommen, was ihnen zusteht. Und jetzt zieh dich rasch an, wir fahren zu deiner Cousine.«

Violet rang erschrocken nach Luft, als sie begriff.

»Sie waren hinter uns her, weil wir die Auserwählten sind. Angelica und ihr Sohn! Patrick, vielleicht ist ihnen etwas zugestoßen!«

»Beruhige dich, Liebes, und zieh dich an. Wir werden der Sache gleich auf den Grund gehen.«

»Aber Angelica und Klein-Mitja!«

»Alexander wird sie schon beschützen«, beruhigte Patrick seine Frau. Er gab zuerst ihr, dann seiner kleinen Tochter einen zärtlichen Kuss auf die Stirn.

Violet nickte zögernd. Alexander und Patrick waren nicht umsonst die Oberhäupter ihrer Clans. Alexander würde mit möglichen Angreifern ebenso leicht fertig werden wie Patrick.

»Sie bezeichnen sich als Wahre Vampire«, erklärte Alexander Kourakin, Oberhaupt des östlichen Clans der Vampire, während er unruhig vor den drei grimmig dreinblickenden Gestalten auf und ab schritt. »Wir wissen nicht, wie viele sich diesen Verrätern angeschlossen haben, aber wir wissen, dass sie es sich zum Ziel gesetzt haben, alle Auserwählten zu töten, um eine weitere Vermischung von Mensch und Vampir zu verhindern.«

Prinz Mikhails Wangenmuskel zuckte. Was sein Schwager hier schilderte, war nichts weniger, als eine Verschwörung zur Ausrottung seiner Familie. Die Mistkerle wollten seine Schwester töten, seine Cousine und deren Kinder!

»Ich werde sie finden«, schwor er.

Alexander warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Keine Sorge, die Verräter werden ihrer gerechte Strafe nicht entgehen, Mikhail, aber du wirst dich, fürchte ich, aus diesem Kampf heraushalten müssen.«

Angelica hatte ihrem Mann offensichtlich verraten, dass ihr Bruder einen Herzfehler hatte. Aber davon würde sich Mikhail jetzt nicht abhalten lassen!

»Nein, ich werde mich nicht raushalten, Alexander. Es ist auch meine Familie. Ich würde ohne Zögern mein Leben für sie opfern.«

Sein Blick wanderte über die Gesichter seiner Freunde. Alexander, Patrick und Ismail schauten ihn alle mit dem gleichen mitfühlenden Bedauern an.

»Mikhail, du kannst uns nicht bei der Jagd nach ihnen helfen, du bist nur ein Mensch. Vampiren bist du physisch hoffnungslos unterlegen«, erklärte Ismail, Oberhaupt des Südclans und Vater seiner Cousine, ruhig. »Für dich wird sich eine andere Aufgabe finden.«

Mikhail wusste, dass der Mann recht hatte, aber es gefiel ihm ganz und gar nicht.

»Die Kinder und Mütter müssen bewacht werden«, erklärte Patrick in der eingetretenen Stille.

»Ja«, stimmte Ismail zu, »aber mir wäre es lieber, wir könnten sie für eine Weile wegschicken. Irgendwohin, wo sie in Sicherheit sind.«

»Wenn wir Angelica und Violet wegschicken, spielen wir diesen Bastarden nur in die Hände«, sagte Patrick grimmig. »Man könnte uns für feige halten. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Eindruck entsteht, wir hätten Angst vor ihnen. Außerdem müssen die auserwählten Mütter in nächster Zeit an einigen wichtigen Zeremonien teilnehmen; ihr Fehlen würde das falsche Signal geben. Besonders, wenn die Ereignisse des heutigen Abends durchsickern.«

Mikhail wusste, dass Patrick recht hatte, und auch die anderen schienen der gleichen Meinung zu sein. Wenn die Oberhäupter der Vampirclans ihre Gattinnen verstecken müssten, würde das den »Wahren Vampiren« oder wie immer sie sich nennen mochten, nur zugutekommen. Verdammt!

»Aber die Kinder könnte man doch zumindest fortschicken«, überlegte Ismail.

Mikhail musste an die beiden hilflosen Kleinen denken und wie knapp diese unschuldigen Wesen heute dem Tode entronnen waren. Er würde es sich nie verzeihen, wenn ihnen etwas zustieße.

»Ich werde sie in Sicherheit bringen.«

Mikhail erhob sich und trat vor den kalten Kamin.

»Niemand wird merken, dass die Kinder nicht mehr in London sind. Und falls doch, lässt sich sicher leicht eine Ausrede finden. Ich werde mit ihnen auf den Kontinent reisen, bis die Gefahr vorüber ist.«

Ismail nickte, und die beiden Väter tauschten grimmige Blicke, schienen die Notwendigkeit dieses Plans aber ebenso einzusehen.

»Kiril wird dich begleiten, Mikhail. Du wirst ein zweites Paar Hände brauchen, da es ja zwei Kinder sind.«

Alexander blickte Mikhail fragend an. Angelica vertraute Kiril, Alexanders rechter Hand. Das allein war Grund genug für Mikhail, ihm ebenfalls zu vertrauen. Er nickte.

»Sie werden uns Schwierigkeiten machen«, erklärte Patrick grimmig.

Alle wussten, dass er nicht von den Kindern sprach. Es waren die Mütter, die sich gegen diese Entscheidung sträuben würden.

Mikhail trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Er hatte soeben die Verantwortung für das Wohlergehen von zwei kleinen Kindern übernommen. Aber ihm blieb keine Wahl. Die Vampire mussten bleiben und kämpfen. Und sie hatten recht: Mit seiner menschlichen Kraft war er Vampiren nicht gewachsen, egal ob es nun »wahre« waren oder nicht.

»Also gut.«

Patrick erhob sich aus seinem Sessel.

»Ismail, könntest du die Fahrkarten besorgen? Für das erste Schiff, das morgen früh den Kanal überquert. Ich muss gehen und es meiner Frau beibringen.«

Alexander folgte ihm zur Tür.

»Und ich meiner. Mikhail, komm doch nach dem Packen noch mal rüber, wenn möglich. Ich bin sicher, deine Schwester und deine Cousine werden noch ein Wort mit dir wechseln wollen.«

Mikhail nickte bedrückt. Er befürchtete sehr, dass es deutlich mehr als nur ein Wort werden würde.

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